Herr Liecke, seit einigen Jahren verkünden Politik und Branchenverbände unter dem Schlagwort
Industrie 4.0 die vierte industrielle Revolution. Wo steht
die deutsche Wirtschaft heute bei der Umsetzung einer digital vernetzten Produktion?
Michael Liecke: Der digitale Wandel hat die deutsche Wirtschaft auf ganzer Breite erfasst. 94 Prozent der
Unternehmen antworten in einer aktuellen
DIHK-Umfrage auf die Frage, ob die Digitalisierung ihre Geschäfts- und Arbeitsprozesse beeinflusst, mit Ja.
Dabei sind alle Wirtschaftszweige in vergleichbarem
Umfang betroffen. Die (zeitweilige) Engführung der Digitalisierung in der öffentlichen Diskussion auf den
Begriff Industrie 4.0 ist damit hinfällig. Aber: Nur
27 Prozent aller Betriebe halten die Digitalisierung in ihrem Unternehmen für „voll“ oder „nahezu voll“
entwickelt. Vor allem Daten- und
Informationssicherheit, rechtliche Unsicherheiten, eine unzureichende Breitbandanbindung und fehlende
Kompetenzen bei den Mitarbeitern werden als große
Hemmnisse für die eigene Digitalisierung gesehen.
Geringer Digitalisierungsgrad, schmale Budgets, oftmals veraltete Anlagen: Die Herausforderungen, vor
denen insbesondere viele kleine und
mittelständische Betriebe beim Thema Industrie 4.0 stehen, sind groß. Warum sollten die Unternehmen die
Vernetzung ihrer Produktion dennoch angehen?
Die Veränderungen im Rahmen der digitalen Transformation gehen weit über die Organisation von
Fertigungsprozessen hinaus. Denn die Digitalisierung
verschiebt die Wertschöpfung im produzierenden Gewerbe zugunsten standardisierter IT-Lösungen. Anbieter
dieser Lösungen könnten, wie in anderen Sektoren
bereits vielfach geschehen, die Industrie von der Schnittstelle zum Kunden verdrängen und damit Wertschöpfung
von den Produzenten abziehen.
Traditionsunternehmen der Industrie könnten sich schnell in der Rolle eines leicht austauschbaren Zulieferers
wiederfinden, wenn sie nicht in der Lage sind,
ihren Kunden passgenaue Smart Services anzubieten.
Das ständige Überprüfen neuer Geschäftsmöglichkeiten ist kein 'nice to have', sondern
erfolgskritisch.
Aber auch abseits der sogenannten Plattformisierung ist schon heute absehbar, dass Unternehmen sich mit
diesem Trend auseinandersetzen und die Potenziale
nutzen müssen, um weiterhin am Markt erfolgreich tätig zu bleiben. Insofern ist das ständige Überprüfen neuer
Geschäftsmöglichkeiten kein "nice to have",
sondern erfolgskritisch.
Wie gelingt es auch kleinen und mittelständischen Fertigungsbetrieben, in die vernetzte Produktion
einzusteigen?
Gerade der industrielle Mittelstand steht vor einem hohen Investitionsbedarf in IT-gesteuerte
Produktionsmittel und Maschinen – mit unklaren
Erwartungshorizonten. Die IT-Infrastruktur in den vielen kleinen und mittleren Industriebetrieben ist sehr
heterogen, und wertschöpfungskettenübergreifend
harmonisierte Schnittstellen und Standards sind noch nicht verbreitet. Dies ist vor dem Hintergrund
bedeutsam, dass es Industrie 4.0 ohne umfangreiche
Vorarbeiten nicht geben kann. Jene Betriebe also, die den letzten Entwicklungsschritt versäumt haben, können
diesen nicht einfach überspringen, sondern stehen
vor einer doppelten Herausforderung. Dazu gehört, dass Unternehmen die Frage beantworten, wie sie in einer
digitalen Welt ihre geschäftskritischen
Informationen vor Verlust oder unerlaubtem Zugriff bewahren können.
Mittelfristig ist eine Anpassung der IT-Architekturen an die veränderten
Wertschöpfungsprozesse unabdingbar.
Eine weitere Einstiegshürde sind die Investitionskosten. 72 Prozent der Befragten sagen, dass diese Kosten
gegen die Einführung von Industrie 4.0 in ihrem
Unternehmen sprechen. Allerdings lassen sich zahlreiche Industrie- 4.0-Anwendungen zunächst allein mithilfe
firmeninterner Prozesse und Werkzeuge
bewerkstelligen. Trotzdem ist mittelfristig eine Anpassung der IT-Architekturen an die veränderten
Wertschöpfungsprozesse unabdingbar. Diese sollte von Anfang
an mitgedacht werden.
Inwieweit wird sich Industrie 4.0 im Jahr 2020 in Deutschland etabliert haben?
Hiesige Industriebetriebe haben sich aktuell mit ihrem Knowhow um industrielle Fertigungsprozesse und
Steuerungselektronik weltweit eine gute
Wettbewerbsposition erarbeitet. Deutschland ist mit seinem großen Angebot an erstklassiger
Fertigungstechnologie, Fertigungssteuerung und
Produktionsplanungssoftware der Ausstatter der "Werkstätten der Welt". Die hiermit verbundene gute
Marktstellung und umfassende Kompetenz prädestiniert
deutsche Unternehmen als Anbieter und Entwickler von Industrie 4.0 in der Produktion. Dementsprechend
optimistisch fallen Schätzungen über zukünftige
Umsatzentwicklungen aus. Ein Blick ins Jahr 2020 ist aufgrund der überwältigenden Dynamik kaum möglich.
Wichtig ist, dass die Rahmenbedingungen am Standort
passen, dann werden auch die Unternehmen erfolgreich sein. Dazu gehören eine flächendeckend verfügbare
hochleistungsfähige Kommunikationsinfrastruktur, für den
Mittelstand gut verfügbare und anwendbare Sicherheitsarchitekturen, gut ausgebildete Fachkräfte und nicht
zuletzt ein positives Umfeld für
Unternehmensneugründungen. Denn die Erfahrungen aus anderen Branchen, wie Handel oder Logistik, haben
gezeigt, dass es fast ausschließlich neue, branchenfremde
Unternehmen waren, die Plattformen etabliert und damit die Märkte umgekrempelt haben.