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17.03.2016 // TOP-THEMEN

„Die Digitalisierung verschiebt die Wertschöpfung“

Die mit Industrie 4.0 einhergehenden Veränderungen sind vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen eine Herausforderung. Michael Liecke vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) rät Firmen, sich frühzeitig mit den Trendthemen Digitalisierung und vernetzte Produktion auseinanderzusetzen.

Herr Liecke, seit einigen Jahren verkünden Politik und Branchenverbände unter dem Schlagwort Industrie 4.0 die vierte industrielle Revolution. Wo steht die deutsche Wirtschaft heute bei der Umsetzung einer digital vernetzten Produktion?

Michael Liecke: Der digitale Wandel hat die deutsche Wirtschaft auf ganzer Breite erfasst. 94 Prozent der Unternehmen antworten in einer aktuellen DIHK-Umfrage auf die Frage, ob die Digitalisierung ihre Geschäfts- und Arbeitsprozesse beeinflusst, mit Ja. Dabei sind alle Wirtschaftszweige in vergleichbarem Umfang betroffen. Die (zeitweilige) Engführung der Digitalisierung in der öffentlichen Diskussion auf den Begriff Industrie 4.0 ist damit hinfällig. Aber: Nur 27 Prozent aller Betriebe halten die Digitalisierung in ihrem Unternehmen für „voll“ oder „nahezu voll“ entwickelt. Vor allem Daten- und Informationssicherheit, rechtliche Unsicherheiten, eine unzureichende Breitbandanbindung und fehlende Kompetenzen bei den Mitarbeitern werden als große Hemmnisse für die eigene Digitalisierung gesehen.

Geringer Digitalisierungsgrad, schmale Budgets, oftmals veraltete Anlagen: Die Herausforderungen, vor denen insbesondere viele kleine und mittelständische Betriebe beim Thema Industrie 4.0 stehen, sind groß. Warum sollten die Unternehmen die Vernetzung ihrer Produktion dennoch angehen?

Die Veränderungen im Rahmen der digitalen Transformation gehen weit über die Organisation von Fertigungsprozessen hinaus. Denn die Digitalisierung verschiebt die Wertschöpfung im produzierenden Gewerbe zugunsten standardisierter IT-Lösungen. Anbieter dieser Lösungen könnten, wie in anderen Sektoren bereits vielfach geschehen, die Industrie von der Schnittstelle zum Kunden verdrängen und damit Wertschöpfung von den Produzenten abziehen. Traditionsunternehmen der Industrie könnten sich schnell in der Rolle eines leicht austauschbaren Zulieferers wiederfinden, wenn sie nicht in der Lage sind, ihren Kunden passgenaue Smart Services anzubieten.

Das ständige Überprüfen neuer Geschäftsmöglichkeiten ist kein 'nice to have', sondern erfolgskritisch.

Aber auch abseits der sogenannten Plattformisierung ist schon heute absehbar, dass Unternehmen sich mit diesem Trend auseinandersetzen und die Potenziale nutzen müssen, um weiterhin am Markt erfolgreich tätig zu bleiben. Insofern ist das ständige Überprüfen neuer Geschäftsmöglichkeiten kein "nice to have", sondern erfolgskritisch.

Wie gelingt es auch kleinen und mittelständischen Fertigungsbetrieben, in die vernetzte Produktion einzusteigen?

Gerade der industrielle Mittelstand steht vor einem hohen Investitionsbedarf in IT-gesteuerte Produktionsmittel und Maschinen – mit unklaren Erwartungshorizonten. Die IT-Infrastruktur in den vielen kleinen und mittleren Industriebetrieben ist sehr heterogen, und wertschöpfungskettenübergreifend harmonisierte Schnittstellen und Standards sind noch nicht verbreitet. Dies ist vor dem Hintergrund bedeutsam, dass es Industrie 4.0 ohne umfangreiche Vorarbeiten nicht geben kann. Jene Betriebe also, die den letzten Entwicklungsschritt versäumt haben, können diesen nicht einfach überspringen, sondern stehen vor einer doppelten Herausforderung. Dazu gehört, dass Unternehmen die Frage beantworten, wie sie in einer digitalen Welt ihre geschäftskritischen Informationen vor Verlust oder unerlaubtem Zugriff bewahren können.

Mittelfristig ist eine Anpassung der IT-Architekturen an die veränderten Wertschöpfungsprozesse unabdingbar.

Eine weitere Einstiegshürde sind die Investitionskosten. 72 Prozent der Befragten sagen, dass diese Kosten gegen die Einführung von Industrie 4.0 in ihrem Unternehmen sprechen. Allerdings lassen sich zahlreiche Industrie- 4.0-Anwendungen zunächst allein mithilfe firmeninterner Prozesse und Werkzeuge bewerkstelligen. Trotzdem ist mittelfristig eine Anpassung der IT-Architekturen an die veränderten Wertschöpfungsprozesse unabdingbar. Diese sollte von Anfang an mitgedacht werden.

Inwieweit wird sich Industrie 4.0 im Jahr 2020 in Deutschland etabliert haben?

Hiesige Industriebetriebe haben sich aktuell mit ihrem Knowhow um industrielle Fertigungsprozesse und Steuerungselektronik weltweit eine gute Wettbewerbsposition erarbeitet. Deutschland ist mit seinem großen Angebot an erstklassiger Fertigungstechnologie, Fertigungssteuerung und Produktionsplanungssoftware der Ausstatter der "Werkstätten der Welt". Die hiermit verbundene gute Marktstellung und umfassende Kompetenz prädestiniert deutsche Unternehmen als Anbieter und Entwickler von Industrie 4.0 in der Produktion. Dementsprechend optimistisch fallen Schätzungen über zukünftige Umsatzentwicklungen aus. Ein Blick ins Jahr 2020 ist aufgrund der überwältigenden Dynamik kaum möglich. Wichtig ist, dass die Rahmenbedingungen am Standort passen, dann werden auch die Unternehmen erfolgreich sein. Dazu gehören eine flächendeckend verfügbare hochleistungsfähige Kommunikationsinfrastruktur, für den Mittelstand gut verfügbare und anwendbare Sicherheitsarchitekturen, gut ausgebildete Fachkräfte und nicht zuletzt ein positives Umfeld für Unternehmensneugründungen. Denn die Erfahrungen aus anderen Branchen, wie Handel oder Logistik, haben gezeigt, dass es fast ausschließlich neue, branchenfremde Unternehmen waren, die Plattformen etabliert und damit die Märkte umgekrempelt haben.

Michael Liecke
Zur Person

Dr. Michael Liecke leitet das Referat Industrie und Forschung beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK).

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